Beckenboden To Go – Folge 27: Psychosexuelle Entwicklung

 

Sexualität fängt doch erst in der Pubertät an oder?

Ich denke, dass viele Menschen diesen Gedanken noch im Kopf haben. Aber die Sexualität fängt schon viel früher an, nämlich im Mutterleib. Im Mutterleib beginnen sich bereits die Genitalien und Organe zu entwickeln und somit beginnt da bereits auch die Sexualität.

 

Wie geht es dann weiter mit der Entwicklung?

Wenn Erwachsene das Wort Sexualität hören, denken sie oft an den Geschlechtsakt an sich.  Aber Sexualität ist viel umfassender und reicher, als wir es im Alltag denken. Und dazu gehört auch unsere Lebensenergie.  Sexualität ist auch Lebensenergie und Lebenslust und genau die beginnt bereits im Mutterleib. Und wenn das Kind geboren wird, dann sind die ersten Berührungen der Mutter die ersten, die Lust erwecken können, was absolut gut ist und Freude erwecken kann. Bereits beim Windeln wechseln fängt auch diese Beziehung zwischen Mutter und Kind an. Sie bestimmt, wie die psychosexuelle Entwicklung wird, denn wenn die Mutter beispielsweise angewidert ist oder mit den Augen rollt, dann nimmt das Kind das bereits wahr und kann so in der Entwicklung beeinflusst werden. Man sollte alles auch einfach beim Namen nennen, also nicht irgendwelche Phantasienamen erfinden, sondern einfach die Geschlechtsteile beim Namen nennen: Vulva und Penis.

 

Ich darf also beim Eincremen die Vulva und den Hoden als Elternteil mit einbeziehen?

Ja, auf jeden Fall. Ohne Bewertung und ohne das, was in unserem Erwachsenenkopf bereits verankert ist, ist es einfach ein Körperteil. Genauso wie der Arm oder das Bein. Ein Kleinkind hat diese Bewertung darauf noch gar nicht. Wenn die Eltern ein Problem damit haben, dann beginnt hier oft auch die Scham der Kinder: Also beispielsweise Mama freut sich, wenn sie meine Hände berührt und schämt sich, wenn sie mich „untenrum berührt“. Genau da beginnt die Bewertung des eigenen Körpers.

 

Ab 3 Jahren beginnt die nächste Phase, wo das Kind ausprobiert. Früher hat man es auch niedlich gefunden, wenn der Junge sich an seinem Penis spielt, aber wenn die Mädchen selbiges getan haben, dann wurde immer gesagt, oh das ist nicht so gut

und da muss man was machen. Das ist falsch und kann das Kind auch in der Entwicklung beeinflussen. Und irgendwann sollen die Kinder natürlich auch bestimmen dürfen, wer die eigenen Genitalien anfassen darf und irgendwann dürfen das eben auch Mama und Papa nicht (mehr) und das muss man dann akzeptieren. Denn genau da lernt das Kind körperliche Grenzen.

 

Als nächstes wird es dann richtig spannend und die Pubertät kommt oder?

Ja genau, der nächst Sprung ist die Pubertät. Hier ist es wichtig gute Aufklärungsarbeit zu leisten.  Hier beginnt auch das äußere Umfeld eine große Rolle zu spielen.  In meinen Augen gibt es heutzutage auch noch keine gute Aufklärung in der Schule, weil nur darüber gesprochen wird, dass man sich über Sex mit HIV anstecken kann oder ungewollt Schwanger werden kann. Aber all die schönen Seiten der Sexualität, die Nähe etc. wird hier oft gar nicht betrachtet.  Was man auch nicht vergessen darf, ist, das Angst eng macht und genau da wo man eng ist, ist die Durchblutung nicht optimal und somit kann es dazu kommen, dass man später Schmerzen beim Sex hat. Die Eltern spielen zwar eine sehr wichtige Rolle bei der Aufklärung, aber es kommt auch der Punkt, an dem die Kinder nicht mehr mit ihren Eltern sprechen wollen und da ist es wichtig, dass die Aufklärung in der Schule entsprechend stattfindet. Sexualität ist so viel mehr als nur das Eindringen des Penis in die Vagina. Sexualität ist Nähe, Energie und wie ein Motor, dessen Energie wir auf welche Art und Weise auch immer, ausleben können.

 

Siehst du die Pornographie als kritischen Punkt während der Pubertät?

Ja. Das ist genau der Punkt, den ich vorher schon erwähnt habe. Nämlich, dass die Pubertierenden ihren Fokus auf die Peergroup legen und wenn dort dann heimlich Pornos geguckt werden, dann denken viele, dass Sexualität so läuft.  Aber genau so läuft es ja nicht. Das ist absolut gestellt und nur für den visuellen Reiz gemacht. Nachher wird erwartet, dass es genau so auch in der Beziehung läuft und da kommt es dann auch zu Streit oder Trennungen innerhalb der Beziehung.

Viele Patient*innen erzählen mir auch, dass genau in diesem Zeitraum auch häufig Probleme mit Vaginismus auftauchen. Und auch die Beziehung zur Mutter kann dort Einfluss nehmen, wenn die Bindung beispielsweise viel zu eng war, so dass man

noch das Gefühl hat „Mamas kleines Mädchen“ zu sein und sich deswegen nicht öffnen zu wollen. Oft wird leider auch nur die Frage gestellt „Hast du oder hast du noch nicht“. Auf die Qualität wird hierbei nicht geachtet, dabei muss man doch genau darauf achten, möchte ich mit demjenigen intim werden, was gefällt mir, was gefällt mir nicht.  Auch dieser Mythos des Jungfernhäutchens muss in der Aufklärung stattfinden, denn der Mythos, dass dieses Häutchen beim ersten Akt durchstochen wird und dabei auch Schmerzen sowie Blutung entstehen. Genau so soll es ja aber nicht sein, ich soll mich ja gut fühlen und Lust und Freude empfinden. 

 

Wir sollten auch unsere eigenen Grenzen kennen und diese wahren. Es gibt nichts, wo man „durch“ muss in der Sexualitä!!

Wie geht es im Leben einer Cis-Frau weiter?

Der erste Meilenstein ist meist die Menstruation, der zweite dann das erste Mal und der dritte Meilenstein ist eine Geburt, aber vor der Geburt gehen die meisten zwischen 20 und 30 ihre (ersten) langjährigen Beziehungen ein. Und irgendwann kommt dann der Stress (Job, Zusammenzug etc.), der das Verliebtsein in den Hintergrund rücken lässt. Und genau das sollte auch bei der Aufklärung erwähnt werden, dass auch die Sexualität auf ein Neues entfacht werden kann. Bei einem Job ist es ganz normal diesen zu wechseln, aber in einer Beziehung hat man die Möglichkeit zu schauen, ob es wirklich nicht mehr passt oder ob die Sexualität einfach in Hintergrund gerückt ist. Oftmals wünscht man sich auch diesen Verliebtheitssex zurück und das obwohl der meist gar nicht so gut ist, im Vergleich zu dem, was sich nach vielen Jahren entwickeln kann. Weil man sich einfach viel mehr traut und trauen kann und sich dementsprechend auch öffnen kann. Und natürlich ändert sich die Priorität der Sexualität von Zeit zu Zeit, aber man darf und kann die eigene Sexualität und auch die Sexualität in der Partnerschaft neu entdecken und auch neu aufleben lassen. Im Laufe eines Lebens und vor allem während des Erwachsenwerdens werden uns so viele Dinge beigebracht, sprechen, lesen, schreiben aber Sexualität und wie genau eigentlich eine Partnerschaft geht, das wird oft außen vor gelassen. Das Thema Sexualität ist so prickelnd und aufregend und auf vielen Plattformen zugänglich aber dennoch immer so sehr tabuisiert. Spannend wird es dann auch noch bei der Sexualität mit Kinderwunsch. Da wird

dann auf einmal der Kalender rausgeholt und Temperatur gemessen und das Lustvolle rückt meist in den Hintergrund. Aber warum muss es denn genau in diesem Zyklus klappen? Es kann doch auch der nächste sein und währenddessen sollte man

den Sex doch weiterhin lustvoll erleben können. So erlebe ich dann leider auch Paare in meiner Praxis, die gar keine Lust mehr haben und am liebsten einfach nur in Ruhe gelassen werden wollen und das Lustvolle fehlt während des Kinderwunsches leider dann gänzlich.

 

Was man auch zum Thema Hormone nicht vergessen darf, ist, dass viele ja nach wie vor mit der Pille verhüten und das natürlich auch massiven Einfluss auf den Körper hat. Und viele kennen ihren Körper gar nicht richtig und merken erst mit dem

Absetzen der Pille, was ihr Körper alles spüren kann und lernen ihn dann meist erst richtig kennen.

 

Und wenn es dann soweit ist. Ein Mensch ist schwanger. Die Sexualität verändert sich dann wieder oder?

Ja, absolut. Schwangerschaft ist sexuell noch mal eine Phase für sich. Das ist auch von Frau zu Frau unterschiedlich. Einige haben überhaupt keine Lust und müssen erstmal mit ihrem Körper klarkommen, andere haben extrem viel Lust.  Und auch da ist wieder wichtig zu schauen, was möchte ich eigentlich, wie fühle ich mich? Will ich den Sex oder mache ich das nur, weil ich sonst Angst habe, dass mein Partner mich betrügt, wenn ich nicht zur Verfügung stehe. An dieser Stelle möchte ich auch gern nochmal mit dem Mythos aufräumen, dass der Penis das Kind berühren könnte. Das ist anatomisch nicht möglich. Und je nachdem wie groß der Bauch ist, lädt diese Phase ja auch wieder ein auszuprobieren und vielleicht Neues zu entdecken. Einiges ist auch einfach nicht möglich, das muss dann auch akzeptiert werden und dann muss man schauen, wie man sich innerhalb der Partnerschaft dem annähern kann, das beide Seiten glücklich sind. In dieser Zeit ist viel Offenheit von beiden Seiten wichtig und genau so wichtig ist es sich auch gegenseitig zu sehen und die Bedürfnisse von beiden Seiten zu sehen und zu akzeptieren.

 

Und wenn ich dann geboren habe, dann ändert sich das Ganze wieder, oder?

Ja. Und da kommen wir immer mehr zu dieser Schlussfolgerung, dass jede Lebensphase dazu da ist, sich selbst nochmal anzuschauen. Zu sehen, wo stehe ich heute? Wie geht’s mir und meinem Körper? Viele haben immer das Gefühl, dass es

wieder gleich läuft, wie vorher, aber das tut es nicht. Es ist ganz normal, dass sich der Körper anders anfühlt, unabhängig davon ob man vaginal oder mit Kaiserschnitt geboren hat. Auch die Aussage von vielen Ärzt*innen, dass Mensch nach 4 – 6 Wochen wieder aktiv werden darf, irritiert viele. Es ist gesundheitlich ab dem Zeitpunkt meistens wieder möglich, aber man muss dann natürlich nicht direkt wieder loslegen. Jede*r bestimmt sein/ihr eigenes Tempo. Es geht auch nicht darum, wann du wieder kannst, sondern darum, wie es dir geht. Der Beckenboden trägt 9 Monate lang das Gewicht des Babys, Fruchtwassers und der Plazenta und ist dadurch schon angestrengt. Während der Geburt dehnt sich die Muskulatur dann bis zu 15 cm und das ist eine enorme Leistung. Und danach braucht die Muskulatur auch einfach eine gewisse Zeit an Regeneration, nicht umsonst biete wir unter anderem auch Rückbildungskurse an.

 

Dann kommt die Phase 40 – 50. Was passiert hier in der psychosexuellen Entwicklung?

Die nächste Phase ist vor allem bei der Frau die Menopause. Auf diese Zeit kann und darf man sich bereits mit 38 Jahren vorbereiten. Viele Frauen machen sich Gedanken, dass sie ab dem Zeitpunkt keine richtige Frau mehr ist, weil dann der

Zyklus aufhört. Aber auch da sollte man liebevoll mit sich umgehen, weil da wieder eine hormonelle Phase entsteht, die einen durchaus auch wieder überrollen kann. Aber generell finde ich, dass je offener darüber gesprochen wird, desto mehr

Verständnis entsteht auch für diese Phase. Und ich bin der Meinung, dass darüber auch immer noch zu wenig gesprochen wird.

 

Ich erlebe es auch häufig, dass in dieser Phase die Sexualität nochmal hinterfragt wird, ob man die Sexualität lebt, die man möchte und braucht. In dieser Zeit verändert sich auch körperlich einiges, im Sinne davon, dass die ersten Wehwehchen anfangen, die Muskulatur baut ab, das Bindegewebe wird schwächer und es kann auch sehr herausfordernd sein zu akzeptieren, dass der Körper langsam altert. Dabei sind die Wechseljahre ein erneutes Geschenk, das entdeckt werden möchte.

 

Und nach den Wechseljahren hört die Sexualität dann auf oder?

Für einige mag das sicherlich so sein, aber absolut nicht für alle. Ich wurde beispielsweise letztens von einem Altersheim zu einem Vortrag eingeladen und auch in dem Alter finde ich, sollte man sich Gedanken machen, was passt mir und was

nicht. Wo und wie erlebe ich die Lustenergie noch oder möchte es erleben? Menschen ab dem Rentenalter aufwärts wird Sexualität und das Bedürfnis danach ja häufig abgesprochen, aber letztendlich ist Sexualität auch im Alter ein Bedürfnis.

Sexualität ist unabhängig vom Alter und Lebensphase und etwas für Jedermann/Jederfrau. 

Und deswegen lade ich gern alle ein mehr Lust im Leben zu empfinden.


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